7 Mrz 2016

„Gestern Abend?… Äh, mal nachdenken…“ – Über Erinnerungslücken im Leben

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Es knackst und reißt im Kopf – Arbeitsspeicher-Upgrade fehlgeschlagen

„Wo warst Du gestern Abend?“ Eine scheinbar simple Frage, auf die ich nicht direkt die  Antwort kenne. Klar, durch etwas Nachdenken komme ich darauf, aber eben erst durch „etwas Nachdenken“. Hätte es „vorgestern“ oder „letzte Woche um diese Zeit geheißen“, müsste ich schon im Outlook-Kalender nachschauen, um ganz sicher zu gehen – und das liegt nicht daran, dass meine Abende immer gleich fad und ereignislos verlaufen… Ganz im Gegenteil!

nut-1022488„Wo warst Du gestern Abend?“ bleibt für mich nicht einfach eine Frage sondern fügt mir das zu, was R. Willemsen einen „Knacks“ genannt hat: „Wie sollten wir all das kennen, was wir haben, bevor wir es verlieren? Sind wir überhaupt noch anwesend in unserem Leben, …“. Ich bin anwesend und versuche, ganz bewusst zu leben, Momente zu genießen, auszukosten und nicht nacheinander abzuhaken. Und doch lebe ich zwar alle diese (meine) Augenblicke, aber erinnere mich schwerlich an sie, habe Mühe sie präsent zu halten. Es fühlt sich manchmal an wie beim Nussknacker oder wie diese kleinen Haarrisse auf alten Ölschinken, wenn man genau hinguckt wie die Farbe leicht zu blättern droht. Ich führe zwar Tagebuch und reflektiere viel mit Freunden/innen über Lebensereignisse, aber trotzdem spürt es sich oft an wie eine riesige Datenbank auf einem USB-Stick oder in der Cloud: Alles ist da, aber von außen betrachtet nur als Bits und Bytes – erst wenn man es abruft, gibt es ein Ganzes. Dass Fremde diesen Eindruck von mir haben, finde ich o.k. – dass ich es habe, erschreckend!

Die viel zitierte „Schnelllebigkeit der heutigen Zeit“ kommt mir da nur als billige Ausrede vor. Ich lerne den Elevator-Pitch meines Lebens, kann in wenigen prägnanten Sätzen sagen, wer ich bin, was ich mache und was mir wichtig ist – aber das ist auswendig gelernte Aktualisierung. Manchmal date ich meine Social-Media-Profile oder meinen CV ab, aber die einzelnen Augenblicke, die das „Große Ganze“, das ich meine Persönlichkeit nenne, ausmachen, lassen sich nur vage einordnen. Sind es einfach zu viele? Wird Detailwissen zu Recht überschätzt? Ich mag das nicht glauben…

 

Die Fenster der Wahrnehmung – eingepasst und doch verpasst

„Wo warst Du gestern Abend?“ Ich rekapituliere, wie ich zur Antwort komme, und stelle fest, dass ich es nur durch Kategorisierungen und Einordnungen schaffe. Erst die Zeitkategorie: Das war Freitagabend, also Freizeit; dann die Raumkategorie: Das war im Beisl, gemeinsames Essen mit meiner Freundin. „Mein Leben ist in Module zerstückelt!“, schießt es mir in den zweifelnden Kopf. Jetzt verstehe ich am eigenen Leibe, was die Gegner/innen der Bologna-Reform wirklich meinen. Erfahrungen und Lebenseindrücke zu sammeln, ist eigentlich wie Lernen: Es sind zunächst kleine Stückchen, die miteinander verbunden werden müssen, sonst bleiben es austauschbare Wahlfächer oder abgehakte Einzelprüfungen, ohne Bezug und außerhalb meiner Wirklichkeit.

man-69283Ich denke viel in Zeitfenstern, nicht um meinen Arbeitstag nach irgendwelchen Management-Ratgebern effizienter zu gestalten. Vielmehr, um bewusst Rahmen zu schaffen, in denen ich mich nur dem Einen widme, um nicht multitasking-fanatisch alles gleichzeitig und nichts richtig zu machen. Aber das zergliedert mein Leben künstlich in Abschnitte, die keine sind. Meine Achtsamkeitsübungen rufen mich täglich ins „Hier und Jetzt“ zurück. Ich frage mich bloß, wieso bin ich überhaupt woanders gewesen und wie genau dorthin gelangt?

 

Ich bin nicht hilflos sondern „verknüpfungslos“ – Schrödingers Kätzchen maunzt

cat-401124„Wo warst Du gestern Abend?“ löst in mir die philosophische Frage aus, ob der im Wald umfallende Baum auch dann ein Geräusch macht, wenn niemand da ist, um es hören? A. Einstein habe N. Bohr einmal gefragt, ob der Mond auch dann existiere, wenn keiner hingucke. Ob erkenntnistheoretisch oder quantenmechanisch, ich vergegenwärtige mir Sommertage, an denen ich einfach im kitzelnden Gras sitze. Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, aber weiß, dass sie da waren… Aber sind sie es alle noch, und was bedeuten sie für mich heute? Die Momente-Demenz befällt mich wieder, die synaptischen Verknüpfungen meins Gehirns erkunden die kleinen gepflasterten Seitengassen, die oft nach Katzenurin muffeln und nachts unbeleuchtet bleiben. Ammoniakgeruch ist mir aus U-Bahn-Schächten und Unterführungen vertraut, es löst in meinem Kopf keinen Abwehrreiz mehr aus. „Na, praktisch“, denkt meine Ratio – „Echt schade“, fühlt meine Emotio. Dürfen Zustände, die für mich keinen Sinn mehr haben, mir egal sein – ohne „(schl)echtes“ (Ge-) Wissen?

 

Wurstplatte und Jausenbrettl – ein vollwertiges Lebensmahl

Essen„Wo warst Du gestern Abend?“ Ich bestelle ein Gericht und will, dass alles auf einem Teller beieinander liegt, nicht Gemüse, Nudeln und Fisch auf getrennten Schüsseln. Weder besitze ich die „Wurschtigkeit“ eines weisen Jogis, der selig in seiner inneren Mitte ruht, noch löst alles Schöne in mir solche Emotion aus, dass mein Langzeitgedächtnis gar nicht anders kann, als das Erlebte für immer abzuspeichern. Das Meiste ist irgendwie da, er- und durchlebt, ein Puzzle-Stückchen im Mosaiksee. Bin ich zu sehr auf Beständigkeit ausgerichtet und lebe ich zu stark im Festhalten der Vergangenheit? Nein, meine Erinnerungen an diese sind ja gegenwärtig – manchmal mehr, manchmal weniger deutlich. Ich kaue ganz langsam auf einer Rosine herum, versuche achtsam jede Komponente zu schmecken und den Moment zu „inhalieren“ – Morgen schon werde ich mich nicht mehr erinnern…