Wer Ordnung hält, ist bloß zu faul zum suchen? – Für Linealus unverständlich…
Ich bin kein an Aufschieberitis erkrankter Chaos-Typ, der seinem (all)täglichen Kampf mit dem Schweinehund als Loser hinterherdackelt. Mir sind kopflastiger Überblick und Zielorientierung wichtig, Materie ist für mich Mittel zum Zweck, den ich erst noch definieren muss. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik kann mich nicht erschrecken. Ich weiß, dass in einem geschlossenen System die Entropie, d.i. die Tendenz zu immer größerer Unordnung, nicht ab- sondern zunimmt. Da das irreversibel anmutet, rebelliere ich nicht gegen das System, nur um der Revolution willen.
Ich bin kein ideologischer Weltverbesserer, ich bin pragmatisch aus Leidenschaft. Manchmal aber schafft meine Ordnung Leiden, erzeugt trauriges Kribbeln unter meiner rauen Epidermis. Ich kann nicht aus meiner Haut und werde die Geister, die in mir wohnen, nicht los. Sie zücken ihre Dauertickets zum Ausbruch und spielen die A(bo)-Karte aus. Das Leben ist eine einzige Baustelle, Perfektionismus keine Option und Struktur kein Selbstzweck. Trotzdem spielt meine Persönlichkeit mir oft den Streich, dass ein einzelner Anteil sich ungewollt in den Vordergrund schiebt, schlicht weil er dominanter oder fester verankert ist – ich nenne ihn „Linealus“. Latinisiert klingt doch alles gleich viel verniedlichter wie verwissenschaftlichter – tolle Sache!
Ich lerne gerne Neues, probiere Verrücktes aus, bin Schriftsteller und ständig auf der Suche. Kinder müssen im Dreck spielen, Traditionen gebrochen werden und Künstler/innen mit gefährlichem Feuer spielen – da bin ich mir sicher! Ich funktionalisiere Unordnung wie Ordnung, glaube es aber nur zu kontrollieren. Beides kann lähmen, vor allem wenn es sich verselbständigt. Oft verstehe ich erst später, wann und wieso das mir passiert – akzeptiert habe ich es damit noch immer nicht…
Geometrie eines unverstandenen Persönlichkeitsanteils
Linealus mögen fast alle – ich eingeschlossen – …eigentlich. Linealus kümmert sich um mich, meinen Tagesablauf, meine Finanzen, die Sauberkeit und Ordnung – und… er ist einfach gestrickt. Ich weiß immer genau, wo ich mit ihm dran bin und kann mich auf ihn verlassen. Aber genau das bleibt die Herausforderung: Er verlässt sich niemals auf mich! Linealus verfügt über eine klare Kante. Für ihn ist eindeutig, dass Unebenheiten zwar möglich sein können, aber nun einmal keine Geraden bildeten. Ebendiese zeichnet er aufs Exakteste meist täglich in mein Leben, auf meine Weltkugel und in meine Wohnung.
Dass ein dreckiger Kaffeebecher auch am kommenden Tage wegräumt werden kann, das ist Linealus kognitiv verständlich. Allein, es kommt nie dazu. Er selbst verbringt ihn – notfalls des Nachtens – noch schnell in den Geschirrspüler. Frisch gewaschene, aber noch ungebügelte Wäsche z.B. stellt für Linealus einen eigenartigen Zwischenzustand dar. Für ihn heißt das: Diese groteske Übergangssituation gilt es ab der ersten Existenzsekunde so schnell als möglich faltenfrei zu beenden. Passiert dies nicht, stapelt Linealus alles fein säuberlich aufeinander, macht – allenthalben spitze – Bemerkungen, verteilt Arbeitsaufträge und lässt subtile Mahnhinweise ergehen. Manches Mal dominiert Linealus damit die gesamte Fläche meines Daseins und zeichnet kerzengerade Planstriche über schräge Situationskurven hinweg. Mitten durch meine gekrümmte Lebenslinie hindurch, fräst er sich querfeldein, wie eine Eisenbahnschiene durch eine kunterbunt blühende Bergwiese.
Ich persönlich bin Linealus – im Ergebnis – zu Dank verpflichtet. Viel weniger die Dankbarkeit an sich als das Verpflichtetsein hierzu, treibt mich schier in den Wahnsinn. Linealus ist eben und genügsam, kauert meist stumm wie in einer Schreibtischlade liegend. Doch insgeheim lauert er nur darauf, herausgeholt und angelegt zu werden. Er ist ein typischer Flächenländler, dem die Vorstellung von Multi-Dimensionalität, gebrochenen Spektren oder räumlichem Chaos befremdend vorkommt. Oftmals will mir Linealus selbst dann zu Hilfe eilen, wenn ich ihn gar nicht brauche. Um mir Sicherheit angedeihen zu lassen, täuscht er geschickt dort Simplizität vor, wo es keine gibt. Versuche ich beispielsweise ein Gedicht zu schreiben, beginnt er akkurat das Blatt zu linieren, anstatt mir beim kreativen Befüllen desselben zu helfen. Manchmal steht für mich eine unliebsame Aufgabe wie etwa ein schwieriges Telefonat an. Dann priorisiert er mit leichtem Federstrich auf der To-Do-Liste, dringendst den Mistkübel zu leeren, eiligst das Bücherregal abzustauben oder tunlichst die Pflanzen zu wässern.
Linealus ist für mich da, auch wenn ich ihn nie vermisse. Vielleicht ist es das, was uns beide so aneinander fesselt: Wir gehören zusammen und sind aufeinander angewiesen – er weiß das und ich auch! Selten genug ergreife ich sogar dann noch Partei für ihn, wenn seine unbeweglich-steife Akkuratesse nervig oder unangebracht anmutet. Viele – vor allem Erziehungsberechtigte und Lehrverpflichtete – rühmen ihn gerne ob seiner Stringenz. Ich lobe ihn niemals. Ich lebe mit ihm, in meinem Quadratschädel kreisend.
[adaptierte Fassung der Erstveröffentlichung aus: INKAS – Institut für Kreatives Schreiben im Netzwerk für alternative Medien und Kulturarbeit e.V. (Hrsg.): „eXperimenta – Online- und Radio-Magazin für Literatur und Kunst“ (Bad Kreuznach/Bingen 10/2015), Seite 68]
Die „Ent-Mystifizieurung“ unliebsamer Persönlichkeitsanteile kann in künstlerischem Ausdruck erfolgen und sich in epischer Form verewigen, wie oben gelesen. Daneben kann man die eigene Persönlichkeit miteinander sprechen lassen, ohne sie gleich spalten zu müssen: Wenn wir Menschen unterschiedlicher Meinung sind, diskutieren wir diese zivilisiert und sachlich. Nichts anderes passiert in uns, wenn unterschiedliche Persönlichkeitsanteile miteinander „wetteifern“ – nur meist verdeckter und weniger nachvollziehbarer. Gebe ich ihnen aber Namen und stelle mir Platzhalter für sie vor, zerre ich sie aus dem Verborgenen ans Tageslicht. Ein Platzhalter kann ein Tier sein oder eine mir bekannte Person, den ich diesem Persönlichkeitsanteil zuordne. Ich kann mir förmlich vorstellen, wie dieses verbildlichte Wesen sich bewegt, sich in bestimmten Situationen verhält. Ich ordne dann Verhaltensweisen ein, z.B. wenn ein solcher Persönlichkeitsanteil auf einen anderen trifft wie ein Elefant auf eine Maus oder Mutter Teresa auf Rupert Murdoch. Auch Linealus (s.o.) kann nicht aus seiner Haut, bestehend aus einer geraden Kante mit Skalierung – und er tut Dinge so, wie er sie kann und das aus seiner Sicht. Das ist nicht böse oder bedauernswert an ihm oder gar mir, es ist zu akzeptierende Realität.
Statt diese zu verteufeln, kann ich sie auch nachspielen, um ihr ein Gesicht zu geben, ohne stets mich selbst als Gesamt-Charakter in Frage zu stellen – z.B. mit der sog. „Zwei-Stühle-Methode“. Wenn alle Persönlichkeitsanteile aus welchem Grund auch immer in meinem Körper sind, haben sie auch die Daseinsberechtigung, zumindest gehört zu werden. Dazu wechsele ich nacheinander spielerisch von Stuhl zu Stuhl, und rede aus der Sicht des jeweiligen Persönlichkeitsanteils zu einem Thema, wenn ich seinen Sessel beplatze. In Wirklichkeit stehen die Sessel zueinander aufgestellt und sind alle leer, außer der, in dem ich gerade sitze. Somit kann ich besser die jeweiligen Persönlichkeitsanteile auseinander halten, nacheinander zu Wort kommen lassen und einzelne Impulse getrennt nachverfolgen. Diese Stuhldialoge sollte ich aber allein machen, ohne dass sich andere Menschen wundern, wieso ich zu leeren Sesseln quatsche. Außerdem geht es dabei ja nur um mich!