14 Mai 2016

Deine Erfahrung – was sie kann und wer sie ist

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„Erfahrung macht stark“ – …nur wen?

Diesen Slogan zur anstehenden Bundespräsidenten/innen-Wahl lese ich seit vielen Wochen unter staatsmännischem Duktus. In Wien entkommt man dem nicht, zumindest nicht wenn man wie ich oft öffentlich unterwegs ist und diverse Bushaltestellen, Bim-Stationen und Straßenkreuzungen zu Fuß überquert. Sicher, es gibt auch andere, zum Teil völlig verrückte Statements von Kandidaten/innen, die hier zu diskutieren nicht der Ort ist – aber diese eine lässt mich gedanklich nicht zur Ruhe kommen. Liegt es an der  Einfachheit, an der Klarheit oder der hinter dem Slogan stehenden Persönlichkeit? Ich würde gerne Mäuschen in den Redaktionsräumen der dafür verantwortlichen Kommunikationsagentur spielen. Kommende Woche treffe ich mich mit einer Freundin aus diesem Bereich und bequatsche es ausgiebig – bis dahin heißt es selber denken!

PräsidentMit „Erfahrung“ ist hier – nur so lässt sich der Kontext verstehen – wohl nicht ein bestimmtes Erlebnis oder einzeln wahrgenommenes Ereignis gemeint. Angesprochen wird hingegen die Gesamtheit allgemeiner „Lebenserfahrungen“, welche die plakatierte  Person bisher gesammelt hat. Welche das hier konkret sind und ob diese den Kandidaten zum Staatsoberhaupt auszeichnen, mag dahinstehen. Ich frage mich vielmehr ob des Apodiktischen in diesem Slogan, dass Erfahrung (generell, grundsätzlich, prinzipiell) stark oder zumindest stärker macht. Ich selbst halte mich für einen recht lebenserfahrenen (und mental gestärkten) Menschen, und doch kommen mir Zweifel…

Wenn Erfahrung im Allgemeinen stark macht, wen betrifft dies? Einen IS-Flüchtling macht seine traumatische Erfahrung keineswegs „stark“, hingegen stärkt es den Fundamentalismus, mittels Furcht, Folter und Misshandlungen zu terrorisieren, sehr wohl. Der Slogan aber geht wohl davon aus, dass Erfahrung den/diejenigen „stark“ werden lasse, der/die sie (selbst) gemacht habe. Input- und Output-Geber/in wären im Idealfall also personenidentisch – aber anscheinend keineswegs automatisch.

 

Der Mensch besitzt dreierlei Wege klug zu handeln: Durch Nachdenken ist der edelste, durch Nachahmen der einfachste, durch Erfahrung der bitterste! (Konfuzius)

 

„Erfahrung macht stark“ – und Lernen stärker?

WorkshopAls Trainer, Lehrender und Dozent weiß ich aus andragogischen Studien wie der eigenen Lernerfahrung, dass das beste Lernen dasjenige ist, das nicht (nur) aus Büchern stammt sondern das mit einem (Erfolgs-) Erlebnis verknüpfte, aktive Handeln. Das Gehirn merkt sich und verinnerlicht Dinge besser und ordnet diesen eine höhere Wichtigkeit zu, wenn man sie persönlich erlebt hat. Die Entstehung des Erlebens – ob z.B. simuliert oder etwa durch Zufall – spielt dabei nur eine kleine Rolle. In unseren Trainingskursen halten wir daher keine Vorträge oder Diskussionsrunden ab, wir kommen so schnell wie möglich ins Tun! Nur dadurch verankert sich das Erlebte im Langzeitgedächtnis fest und jede/r kann persönlich abschätzen, was das Gelernte mit ihm/r macht – taugt es mir wirklich, kann ich es praktisch anwenden, macht es mich glücklich…?

Insofern halte ich große Stücke auf „Erfahrung“, die ohnehin zu jedem Leben dazu gehört. Aber wie schaut es mit „Stärke“ aus? Manche Erfahrungen – z.B. sich reflexiv und kritisch mit der eigenen Persönlichkeit auseinander zu setzen – machen zunächst einmal gar nicht „stark“. Vielmehr fühle ich mich dann schwach, oft hilflos oder verloren und habe das Gefühl, bislang ist irgendwie alles falsch gelaufen. Die „Quaterlife Crisis“ kurz vor oder nach dem Studienabschluss z.B. kann so ein desillusionierender  Zustand sein.

Es kommt mithin darauf an, wie ich die Erfahrung verarbeite, wie ich so manchen „Erfahrungsbrocken verdaue“ und was ich damit anfange. Entwicklungspsychologisch bildet Erfahrung nur eine von vielen Voraussetzungen für Lernprozesse und Persönlichkeitsentwicklung. Wichtig sind z.B. uns in Trainings und Coachings daher vor allem, dass die Teilnehmer/innen sich – auch (und gerade) wenn sie an ihre Grenzen gehen – wohlfühlen, und dass sie professionell angeleitet, unterstützt und nicht allein gelassen werden. Jedem/r von uns passieren Sachen, die wir nicht erwarten, planen oder verhindern können. Aber auf bestimmte typische Lebenssituationen kann man sich vorzubereiten versuchen – auch mithilfe der Erfahrung anderer.

 

Erfahrung ist nicht das, was einem zustößt Erfahrung ist das, was man aus dem macht, was einem zustößt! (Aldous Huxley)

 

„Erfahrung macht stark“ – für welchen Preis und wie lange?

Nun mag man einwenden, dass auch negative Erfahrungen, Erschütterungen oder das berühmte „Zahlen von Lehrgeld“ womöglich zunächst schwächen, dann aber auf lange Sicht stärken. Für mich klingt das ein wenig nach „Alles was nicht tötet macht nur härter!“ und verweist auf Zucht und Abhärtung statt gesunder Entwicklung und Erziehung. Zum einen bildet das Gegenteil von Schwäche eben nicht „Härte“ sondern „Stärke“. Zum anderen sind Erfahrungen voller Schmerz, Leid oder gar Todesangst weder hilfreich noch psychologisch lehrreich.
Splitterfasernackt durch das Eis zu stampfen, bringt isoliert ohne finnische Sauna (außer einer Lungenentzündung) ebenso wenig etwas wie sich als Pollenallergiker/in jeden Frühling den Grassporen auszusetzen, um der Natur zu trotzen. Schließlich würde auch niemand auf die Idee kommen, Menschen mit Kriegserlebnissen seien deswegen schon besonders gut für die nächsten Kampfeinsätze oder gar das Leben gerüstet – das genaue Gegenteil davon ist leider meist der Fall. Der gern bemühte Begriff „Erfahrungswert“ mag es verdunkeln, aber manchmal haben Erfahrungen schlicht gar keinen Wert, außer dass sie unweigerlich Teil unseres Lebens werden.

FührungskraftMich etwa haben einige unliebsame Erfahrungen als Führungskraft (mangels Vorbereitung, Unterstützung und auch einiger Fehleinschätzungen) so geprägt, dass wir heute einen ganzen Workshop darüber anbieten  würde ich kein Trainingsinstitut leiten, hätten diese Erfahrungen womöglich nur dazu geführt, dass ich jeder Führungskarriere entsagt hätte. Der Workshop ist daher auch keineswegs ein „Führungskräfte-Seminar“. Es geht darum, ob man überhaupt eine Führungsposition ausüben will, was man von sich und anderen erwartet und wie man sich in dieser Rolle wohlfühlt – ob in Kostümchen oder Baumwollstrickjacke gewandet. Etwa als frischgebackene Führungskraft (ob „ausgebacken“, „kräftig“ oder nicht) von den eigenen Mitarbeitern/innen vorgeführt zu werden, die Unsicherheit mit Management-Sprüchen aus dem Lehrbuch zu kaschieren und im Business-Meeting gestriegelt dem Vorstand die Kennzahlen-Optimierung vorzubeten, sind keine „lehrreichen“ Erfahrungen per se. Erfahrungen machen mich im Gegenteil sensibler und anfälliger für bestimmte Sachen, um die ich vorher eine Käseglocke gestülpt und diese nur dann geöffnet habe, wenn ich Lust auf ein Milcherzeugnis aus geronnenem Eiweiß verspürte.

 

Erfahrung hat keinerlei ethischen Wert – sie ist bloß ein Name, den die Menschen ihren Irrtümern verleihen! (Oscar Wild)

 

Erfahrungen können dazu führen, dass ich mich besser im Leben zurechtfinde, so wie mir die Hand auch neben der heißen Herdplatte im Kindesalter sehr eindrücklich signalisierte, dass selbst dort noch Hitze walten kann. Jedoch trifft das meist nur für einen bestimmten Zusammenhang zu (z.B. weniger auf Glaskeramikkochfelder) und behält oft bloß für eine geringe Zeit seine Gültigkeit. Wer heute noch Bildschirmschoner auf dem Notebook installiert, um das System vor dem „Hängenbleiben“ zu bewahren, hängt dem Technikstand der 90ern oder einer IT-Nostalgie nach, verbraucht aber letztlich sinnlose Kapazität des Arbeitsspeichers. Wer im Zirkus mit einem „gezähmten“ Tiger arbeitet, kann trotz jahrelangem Zutrauen dennoch sehr schnell darüber belehrt werden, dass Raubtiere unberechenbar sein können.

VeränderungErfahrung kann sich also auch überlebt und daher zwar ursprünglich vielleicht „stark“ gemacht haben, indem ich dadurch etwa praktische Verhaltensroutinen entwickeln konnte. Sie kann aber auch dazu führen, dass ich mich zu Unrecht auf sie verlasse, bequem zurücklehne und mein Vertrauen, dass es „ja eh immer irgendwie geklappt hat“ enttäuschen. Viele partnerschaftliche Beziehungen scheitern genau aus diesen Gründen, mag man es in Facebook auch sozialverträglicher mit „wir haben uns halt auseinander gelebt“ umgarnen. Zuletzt kann Erfahrung á la „passiert eh nix Großes“ sogar dazu führen, dass wir abstumpfen für Neues und großen Kinderaugen allein das Entdecken überlassen.

 

Die Weisheit eines Menschen misst man nicht nach seinen Erfahrungen, sondern nach seiner Fähigkeit, Erfahrungen zu machen! (George Bernhard Shaw)

 

„Erfahrung macht stark“ – vom Streben nach Stärke als Allheilmittel

Stärke hängt in unserem Sprachgebrauch häufig mit „Kraft“ zusammen, mag letztere auch physikalisch bloß eine neutrale Einwirkung darstellen, die Körper verformen oder beschleunigen kann. Einen „kräftigen Knochenbau“ verspricht das überteuerte Hundefutter aus der Werbung; die „kräftige Hühnerbrühe“ steht als Geheimrezept für ein gesundes und schmackhaftes Mahl gegen die Verkühlung. Und in allerlei Berufsratgebern glitzert uns das Modewort der „Resilienz“ entgegen, nach dem ein/e gute/r Mitarbeiter/in biegsam erstarkt wie ein Bambus in Winde allen Stürmen mit Widerstandskraft entgegen tritt – Burnout-Prävention mit fernöstlichem Philosophiemix als Allzweckwaffe.

 

Erfahrung heißt gar nichts – man kann seine Sache auch 35 Jahre schlecht machen! (Kurt Tucholsky)

 

GefühlJede/r von uns geht vermutlich gern „gestärkt“ durch das Leben, und niemand möchte als „Schwächling“ abgestempelt werden. Aber genauso, wie man aus Fehlern nicht zwangsläufig lernt, sind Kraft und Stärke immer gut Schwäche immer schlecht. Wenn ich z.B. meinem Herzensmenschen meine Liebe gestehe, öffne ich mich und mache mich absichtlich schwach – sogar auf die Gefahr hin, verletzt zu werden. Zu den Persönlichkeiten, denen (scheinbar) alles gelingt, die nie „Danebenhauen“ und wie der sprichwörtliche „Fels in der Brandung“ allem Unbill der Welt trotzen, schaue ich womöglich bewundernd hoch – sympathisch oder gar freundschaftlich verbunden fühle ich mich ihnen nicht. Wenn ich spontan empathisch gegenüber einem/r Trauernden reagiere, geht das nicht ohne selbst Mitgefühl zu empfinden. Das alles lässt mich nicht cool oder souverän oder stark ausschauen – es macht mich menschlich!

 

Wir glauben zwar, Erfahrungen zu machen – aber die Erfahrungen machen uns! (Eugène Ionesco)

 

Ein ehemaliger Bekannter von mir war darauf „spezialisiert“, sich teure neue Sachen dadurch zu finanzieren, dass seine alten „aus Versehen“ zerstört und jeweils von der Versicherung erstattet wurden. Die einen nennen das Kavaliersdelikt, die anderen schlicht Versicherungsbetrug – jedenfalls gewann er schnell darin Erfahrung, wie solche „Unfälle“ für die Versicherungsprüfer/innen auszusehen hatten. Er war sicherlich „stark“ darin aus gewitzter Erfahrung, aber ist das die hier gemeinte Art von (positiver) Stärke? Neben dieser existieren viele andere Formen von „Stärke“, wobei die bekannteste aus dem Bio-Unterricht ein Polysaccharid ist, das als Kohlenhydrat u.a. in Kartoffeln vorkommt.
Wie pauschal (und unsinnig) es daher sein kann, kontextunabhängig von „stark“ oder „Stärke“ zu sprechen oder es auf Plakate zu drucken, mag einleuchten. Zwar ist mir klar, dass Wahlkampfsprüche weniger analytisch und subtil denn unterbewusst und assoziativ funktionieren. Meine persönliche „Erfahrung“ aber zeigt mir in diesem Fall, dass vermeintliche Positivkonnotationen das genaue Gegenteil auslösen können, hinterfragt man ihre Idee konstruktiv.

 

Erfahrung ist fast immer eine Parodie auf die Idee! (Johann Wolfgang von Goethe)