3 Nov 2018

Helloween und intensive Angstlust – auf Kick- statt Sinnsuche

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Trick or treating – …or both?

Ein „Fest“, dessen Sinnhaftigkeit in zumindest unserem breiten umstritten ist, ging vor kurzem erneut mit eingeritzten Kürbissen, Hexenkostümen und vielen Gespensterpartys zu Ende. Der „All Hallows’ Eve“ hat als Volksbrauch seinen ursprünglichen Weg vom keltischen Irland ausgehend über die Einwanderer/innen der USA längst bis zu uns gefunden. Er erfreut sich wachsender Beliebtheit nicht nur bei den Süßigkeiten sammelnden Kindern in Gespensterverkleidung.

Aber warum? Weil es so schön harmlos ohne religiöse Vereinnahmung, soziale Verpflichtung und anstrengende Reflexion auskommt und gut zum Zeitgeist passt? – Vermutlich. Weil der Medien- und Kommerz-Hype alle Vermarktungspotentiale ähnlich den Muttertagsblumen ausschöpft? – Bestimmt. Aber ebenso, weil das Gruseln in geschütztem Rahmen, das sichere Spiel mit dem Erschrecken und die Verwandlung in das Böse auf Zeit uns anziehen wie der die Mägen umdrehende Ritt auf dem Riesenrad.

Ob Schauermärchen, Sagen, Legenden, Vampirgeschichten oder Kriminalromane: Schon als kleine Kinder fanden wir das super – vor allem, da wir immer wussten, dass die Geschichte aus Omas Buch nicht wirklich in unser Bett springen kann, dass die Fledermäuse kein Menschenblut saugen und fast immer der Underdog-Kriminalkommissar das Verbrechen zum Guten hin auflöst. Deswegen boomen Fantasy-Romane wie -Rollenspiele, gleichsam wie ganze Serien-Epen auf Netflix zu günstigen Monatsabos verführen. In Zeiten von Fake-News stehen nicht wissenschaftliche Tatsachen oder unverfälschte Historie im Vordergrund; es genügt die Echtheit der dabei ausgelösten Emotion. Je intensiver diese stattfindet, je größer der Gruselfaktor und je bestechender die Schauerlichkeit, desto besser.

 

Intensität – das neue real life?

Ursprünglich bezeichnete der Begriff „Intensität“ naturwissenschaftlich die Stärke beförderter Energie, z.B. durch Erhöhung der Spannung in der Elektrik. Heute wird eine tiefgehende Erfahrung oder ein besonderes Erlebnis als intensiv beschrieben, vor allem im emotionalen Bereich. Die Welt möglichst intensiv zu spüren, beim Spontansex oder im Abenteuerurlaub, durch die Geschmacksexplosion im Mund oder den Vibrations im Konzert, ist erklärtes Situationsziel. Intensität erlangt so eine qualitative Dimension: „mehr“, „tiefer“ und „durchdringender“ bedeutet nicht bloß eine (neutrale) Erhöhung von Quantitäten. Intensiv wird mit „wow“, „besser“, „wichtiger“ und „echter“ gleichgesetzt. Jemand, der sein Leben intensiv lebt, macht es richtig – alle anderen sind angepasste Langweiler/innen oder Systemkonformisten/innen.

Was wir mit besonderer Inbrunst getan haben, hart erarbeitet oder diszipliniert durchgequält, dem wird (automatisch) ein höherer Wert beigemessen. Wenn es darum geht, sich die Arbeitsschritte und persönliche Einzelerfolge zu verdeutlichen (z.B. selbst angebautes Gemüse statt Supermarkt oder die schweißtreibende Bergwanderweg statt komfortabler Seilbahn-Nutzung), ist das leicht nachvollziehbar. Oft jedoch mutiert ein „mehr“ schon zu „besser“, Intensivität contra das Langsame, das Dahin-Plättschern, das Einfache. Intensive Gefühle erfährt man nicht in der Bibliothek beim Vokabellernen, dem Müll-Rausbringen oder beim Ausfüllen der Steuererklärung. Intensive Erfahrungen macht der Drogenabhängige, der sich kraft eisernen Willens auf kalten Entzug gesetzt hat, oder der Underdog, der die Millionen-App an Google verkauft hat und so seine Familie aus dem Slum holt. Was intensiv daherkommt, ist gilt als stärker präsent und fokussierter, als das woran man sich (gerne) erinnert, was Eine/n prägt und dem weichgespülten Happy-Peppi-Gesicht unserer schnelllebig-vergänglichen Welt einen Hauch krasse Ewigkeit entgegenrotzt. Das Jetzt wird eine laaaange Sekunde festgehalten, das Leben gefasst und in einem glitzernden Moment-Diamanten gepresst, mag er der Sache nach aus stinkigem Erdöl oder rußigem Kohlenstoff bestehen.

Das Tolle an dieser Intensivität ist, dass Sie allein messen, ob es Ihren Maßstäben genügt oder nicht. „Ich erlebe, also bin ich!“, kann weder von der DSDS-Jury mit abartigen Bohlen-Sprüchen zerquatscht noch von „The Taste“-Sterneköche/innen durch Textur- und Kompositionsanalyse des eilends zusammengekochten Testlöffels madig gekaut werden. Die Intensität gehört ganz Ihnen; objektive Bewertungskategorien treten zurück – egal ob künstlerisch anspruchsvoll, pädagogisch lehrreich oder moralisch akzeptabel.

Angst, Lust, Angstlust – Gimme the thrill!

Solche Intensität geht nicht nur über den Normalzustand hinaus; sie bedarf oft eines erhöhten Aufwandes zur Erreichung. Wenn die Regierungskoalition „sehr intensiv beraten“ hat, dann bedeutet das auch ohne umsetzbare Beschlüsse oder gar politische Lösungen zumindest rauchende Köpfe und eine Gemeinwohlorientierung sondergleichen. Ein „intensives Frischeerlebnis“ kriegt man nicht durch das Waschen mit warmer Lauge hin, sondern über die sündteuer glitzernden Megaperlen in der Trommel. Die phänomenologische Erhöhung solch intensiven Erlebens hat seinen Preis, den wir lieber cash vor Ort zahlen als uns monatlich Versicherungsbeiträge im Dauerauftrag abbuchen zu lassen: potenz- und konzentrationssteigernde Drogen, die schmerzenden Gelenke nach dem Ironman-Lauf oder angeschlagene Ellenbogen im minimalistischen Tiny-House. Heute wird auch von unseren Gegenübern implizit vorausgesetzt, das man für den Job, die Selbstständigkeit, den Leistungssport und die „Sache“ brennt – alles weniger gilt als schwach und unzureichend. Die Latte liegt hoch, einmal gezündelt will das ewige Feuer am Lodern gehalten werden.

Statt kontemplativ allen Heiligen am 01.11. und allen Verstorbenen  am 02.11 zu gedenken oder gar auf die religiöse Erlösung in Transzendenz nach dem Tod zu hoffen, wollen wir lieber lebensimmanent das Hier und Jetzt auskosten. Satt und grundversorgt suchen wir bei Jochen Schweizer und Co. nach dem Kick, Sensation Seeking allein im Moment ohne Blick für Vergangenes oder Zukünftiges. Furcht und Gefahr lösen uns kurze Zeit aus der Komfortzone des Alltags heraus, ob in Form von Mutproben im Abenteuersport oder als kalkuliertes Wagnis beim Paintball-Spielen. Die Angst weckt uns auf, die Lust an der Bewältigung befriedigt. Appetenz- und Aversionsverhalten halten sich die Waage, zwischen der magischen Anziehungskraft und der schützenden Abwehrreaktion pendelt die Angstlust. Zeitlich entrückt im kontrollierten Schwebezustand, dominiert dieses Oxymoron den Thrill des Zeitgeists. Unser Gehirn checkt zwar die gekünstelte Situation, im Moment wird dennoch eine echte Emotion ausgelöst – wie das Zittern beim Horrorfilm im Kino oder das Weinen beim Titanic-Movie im TV. Das ambivalente Wechselspiel bedarf beider Pole inszenierter Bedrohung wie deren erfolgreicher Begegnung, die uns erst die Lust verschafft.

Nicht „Süßes oder Saures“ sondern beides gleichzeitig, cremig und crispy, Frühstück und Mittagessen vereint im Brunch sowie Obst und Getränk im Smoothie. Die Kombipackung intensiver Lebensart – brauchen wir sie, und falls ja, wozu? Welche einfachen Erlebnisse, Erfolge, Erfahrungen schätzen Sie, auch wenn sie zu keinem FB-Post taugen, kein Selfie-Foto davon existiert und keine Wow-Effekte auslösen?