Vom Mythos zum Logos – dein Leben braucht beides!
Objektiv wahr, subjektiv unklar – die (gar nicht so) alten Griechen
Im Geschichtsunterricht wie von der Wissenschaftstheorie haben wir (vermeintlich) gelernt: Die Anfänge westlichen Denkens wurzeln in der Ablösung der von Kultus, Ritus und Religion gespeisten Weltdeutungen durch die Vernunft. Der Altphilologe W. Nestle sah hierfür die griechischen Philosophie als die emanzipatorische Kraft an: Logos (das Wort) besiegt Mythos (das Bild)! Und noch heute gilt „Das halte ich für einen Mythos!“ gemeinhin als abqualifizierende Aussage über die Echtheit oder Korrektheit einer unbewiesenen Behauptung. Zwar sind wir in der Wissenschaft inzwischen weit davon entfernt, die Naturgesetze durch das Zusammenwirken anthropomorpher Götterwesen zu (v)erklären oder die subjektive Wahrnehmung von Phänomenen auf oberflächlich einleuchtende Verallgemeinerungen zurückzuführen. Ein lautes Himmelskrachen kann durch göttlichen Blitz des Zeus oder ein plötzliches Ausdehnen von Luftwirbeln oder aber einen Düsenjet verursacht sein.
Die Hinwendung zu systematischen, nachvollziehbar-falsifizierbaren Begründungen hat mittlerweile in Studium und Alltag Einzug gehalten, in unserem Inneren aber nicht. Metaphern, Allegorien und simplifizierende Vergleiche spielen nicht nur etwa in der Kommunikationswissenschaft, der Musik oder Literatur weiterhin eine große Rolle, auch in unseren Köpfen benötigen wir Bilder um uns Sachverhalte vorzustellen und verstehen zu können. Beim Krimi-Abend erzeugt eine wissenschaftliche Erklärung über den Mordhergang nicht halb so viel Spannung wie ein blutendes Messer aus der Halbtotalen, gepaart mit einem von Geigenmusik untermalten Schrei.
Mythologische Wirklichkeiten – lieber fraglich passend als gar nicht da
Aber auch in unserem Alltagsleben abseits von Fantasie und Fiktion „mythologisieren“ wir gerne dergestalt, indem wir versuchen, Zusammenhänge zu verstehen und Kausalketten auf bestimmte Urkräfte, Grundprinzipien oder allgemeine Wirkungen zurückzuführen – auch wenn dies weder methodisch sauberen Kriterien standhält noch uns das überhaupt kümmert. Vor den sog. „modernen Wissenschaften“ dominierten nicht von ungefähr polytheistische Gesellschaften, wo einst die Charaktereigenschaften bestimmter Götter als Abstraktionsavatare herhielten.
In der heutigen hochkomplex globalisierten Welt verstehen wir viele Dinge gar nicht – entweder weil sie ganz neu sind (z.B. im technischen Bereich) oder weil wir einfach nicht die Zeit haben, uns immer alle Informationen zu besorgen. Wir haben uns de facto damit abgefunden, jeden Tag von Wirtschafts- und Finanzkrisen zu lesen, ohne die zugrunde liegenden Mechanismen en détail zu checken. Wir leben damit, von bewaffneten Konflikten oder Flüchtlingskrisen zu hören, ohne die dahinter stehenden sozio-politischen Gründe im Einzelnen genau zu begreifen. Aber bei den Dingen, die uns persönlich wichtig sind, geht die Strategie nicht auf: Solche Fragen offen zu lassen, macht uns unglücklich, lässt uns innerlich verzweifeln und führt letztlich in den Wahnsinn. Deshalb tendieren wir dazu, allem, was für uns (subjektiv) bedeutend ist, auch einen objektiven Sinn beigeben wollen – ob es diesen gibt, er wahrscheinlich ist oder nicht. Manche Religionsphilosophen erklären so die Existenznotwendigkeit von Gott – aus der reinen Not unserer Unzulänglichkeit heraus. P. Sloterdijk spricht von „anthropozentrischen Übungssystemen“ als selbst gegebene Regelwerke zur Formung unseres Verhaltens durch Bewältigungsstrategien.
Aber auch beim Jobinterview gilt dieses Prinzip: Wenn ich nicht begreife, wieso ich nicht genommen wurde trotz des tollen Gesprächs mit der/m Recruiter/in, „hatten die sicher schon jemand internes in petto“. Beim Würfeln ist es trotz ausgefuchster Spielstrategie „das fehlende Glück“, bei gänzlich Unerklärlichem notfalls „Zufall oder Schicksal“. Alles getreu dem Motto: Eine schlechte Erklärung ist besser als gar keine, denn zumindest ist sie „etwas“, und wir fühlen uns beruhigter.
Mein Alltagsmythos – Götzendienste unsichtbarer Mächte
Nicht nur aus Erklärungsnotständen, auch in allerlei Alltagssituationen kompensieren und ergänzen wir gerne „mythologisierend“. So kennen wir die meisten Politiker/innen, Künstler/innen und sonstige Personen der Öffentlichkeit meist nur gefiltert durch Medienberichte, gefärbt durch einzelne Nachrichtenfetzen und dadurch, was sie öffentlich sagen (nicht, was sie nicht sagen oder gar privat tun). Dennoch könnte praktisch Jede/r von uns drei ihm sympathische und drei unsympathische Promis auf Anhieb mit entsprechender „Begründung“ nennen, ohne je den Menschen dahinter erfasst zu haben. Das Bewerten einer Marke oder einem Image ist völlig legitim und sichert nicht nur unser „Überleben“ in der Informationswelt – es erspart auch, jeder Aussage ständig ein „vermutlich“, „mutmaßlich“ oder „wahrscheinlich“ bzw. „meiner Ansicht nach“ beigeben zu müssen. Ferner ist es praktischer und zufriedenstellender als sich andauernd als kritische/r Hinterfrager/in unbeliebt zu machen.
Ob Wissenslücken in Uni-Prüfungen, bei dem was wir wirklich vom Leben wollen (und erwarten) oder was uns unser Gegenüber eigentlich gerade sagen möchte – unser Gehirn vervollständigt gerne und viel, nach dem was unserer Erfahrung und unserem Verständnis nach wahrscheinlich anmutet – das ist nicht „Rocket Science“ aber Lebenspragmatismus. Mit der Zuhilfenahme weithin unsichtbarer Mächte kommt das besonders praktisch, denn diese können wir per definitionem nicht verstehen. Nicht umsonst gelten „Die Wege des Herrn (dem menschlichen Denken) als unergründlich“ und wusste schon Napoleon I. Bonaparte zu sagen: „Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums“. Geht etwas daneben oder verstehen wir es nicht, ist die (Aus-) Rede hin auf eine höhere Macht immer unangreifbar, denn man kann sie bewundern und fürchten gleichermaßen, und sich dagegen aufzustellen bringt eh nichts.
Pervertiert sprechen manche Altgestrigen bei Diktaturen nur von dem „gesichtslosen System“, dass die aktiv Beteiligten vom einzig grausamen Apparat zu distanzieren trachtet. Deswegen eignen sich als Soldaten des „bösen Imperiums“ in der Star-Wars-Saga auch geklonte, namenlose Sturmtruppen in gesichtsverhüllenden, uniformen Helmen am besten.
Lebensplan und „roter Faden“ – der Monomythos unseres Lebens
Bereits in der Heiligen Schrift (Genesis 38, 28) begegnet er uns als Symbol für das „Beste“: Die Hebamme greift nach demjenigen Zwilling, der als erster seine Hand herausstreckt und markiert den Primus mit einem roten Bändchen! Durch wessen Lebenslauf sich bei Bewerbungsgesprächen der sprichwörtliche „rote Faden“ schlängelt, gilt auch heute noch als vorausschauender, zielstrebiger und effizienter – auch ohne geschwisterliches Gegenstück. Tatsächlich aber folgen Lebensverläufe selten dem Geburtsvorgang oder vermeintlich mit der Muttermilch aufgesogenen Plänen – und das ist gut so. Vielmehr „verkaufen“ wir lieber eine Stringenz und interpretieren etwas als „zielstrebig“, ganz dem „mythologisierenden“ Mustern von oben. Bewerber/innen wie Recruiter/innen fühlen sich damit besser, eine Win-Win-Situation nach den Regeln des beruflichen Karrierespiels.
Im wahren Leben durchwandern wir hingegen gleich mehrfach die Grundstruktur sog. „Monomythen“. Auf dem Gebiet der vergleichenden Mythologie definiert J. Campbell dabei drei klassische Stadien, die wir in Homers „Illias“ wie oft in unserem eigenen Leben ausfindig machen können: Aufbruch-, Aristien- und Rückkehrphasen. Der/Die mythische Held/in befindet sich zunächst im Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt und wagt den Schritt ins Unbekannte oft mithilfe einer/s Boten/in, Führers/in oder Ratgebers/in. Das erinnert an den Auszug aus der elterlichen Wohnung oder an den Studienbeginn. Danach besteht der/die Held/in Abenteuer und Prüfungen. Gleich einer Helden-Sage muss er/sie sich durch Taten beweisen (sog. „Aristien“) und sieht sich oft als Teil einer größeren Gruppe oder Mission. Das können die Führerscheinprüfung, Uni-Tests, die gemeinsame WG oder die Beziehungskrise mit der Studi-Freundin sein. Zuletzt vollzieht der/die Held/in eine Transformation und kehrt segenbringend zurück. Ob sich dies in interkultureller Kompetenz nach dem Auslandssemester oder in dem oftmals besseren Verhältnis zu den Eltern nach vollzogenem Abnabelungsprozess manifestiert, hängt heutzutage von vielen individuellen Faktoren ab.
Warum TV-Serien wie „The Big Bang Theory“ so einen Erfolg haben, mag (unabhängig von der mehr als fraglichen Gender-Perspektive) nicht verwundern: Selbst Geeks und Nerds wie der zutiefst „verwissenschaftlichte“ Sheldon Cooper wollen sich das Katzentanzlied vorsingen lassen und kompensieren ihre unbeholfenen, sozialen Macken in Science-Fiction-Mythen. Sind wir nicht alle ein bisschen TBBT?