In der (Lebens-) Mitte – wir alle sind Künstler/innen, mehr als wir glauben!
Birthday Blues at the weekend? – Ich zeichne mir die Sonne ein!
Sonntag am Tag nach meinem 39. Geburtstag. Wie die letzten Geburtstage auch nutze ich die Zeit der Nachdenklichkeit, um über mich zu grübeln: Wie ist bzw. war mein Leben bis jetzt? Wo stehe ich heute? Was ist gelungen, was weniger? Und wo will ich wie noch hingelangen? Keine schmale Kost, nachdem ca. die statistisch erste Lebenshälfte wie im Flug verstrichen ist und die statistisch zweite eher ungewiss. Auch draußen wird es (laut Wetterdienst, und die haben schließlich immer Recht!) zuletzt nach einem Hauch von 15-Grad-Sonnenschein-Frühingsanfang die kommende Woche wieder frostiger zugehen. Der graue Himmel deutet es voraus – ein Omen für meinen weiteren Lebensweg? Ach Quatsch!, denke ich und versuche, meine innere Stimme nicht so (ver-) klingen zu lassen, als stamme sie aus einem dieser Positive-Thinking-Seminare, die „dein ganzes Leben verändern“ sollen – zumindest was die Geldbörse anbelangt, stimmt dies zumindest meist.
Ich klappe den Laptop zu und schnappe mir ein großes Blatt Papier (mindestens DIN-A-3). Statt die nicht vorhandene Sonne aus der Ferne anzubeten, male ich sie mir auf. Sie scheint nicht so hell wie in echt und produziert bestimmt weniger Vitamin D auf der Haut. Aber sie ist da, ich habe sie selbst (nicht schön, aber selten) gemalt. Ich kann meinen Blick auf sie richten anstatt in die Wolken. Nach einem kurzen Lächeln stelle ich mir vor, wie mein Leben und ich „ins Gesamtbild passen“. Ich beginne mit einem Brainstorming über einschneidende Lebensstationen – schöne wie unschöne – (Geburt, Uni-Abschluss, Lebenspartnerin kennengelernt, Freunde gestorben…) und clustere diese mit kurzen Stichworten intuitiv auf das Papier. Ich folge dabei weder der Genauigkeit noch der Objektivität, sondern „verzeichne“ mich auf dem Blatt wie auf einer Lebenslandkarte. Ich schreibe so wenig wie möglich, male und bebildere das Meiste und wähle die Farben dazu ganz spontan. Ich verbinde die Lebensstationen miteinander chronologisch, sodass sich ein natürlich geschwungener Faden (kein „roter“, wie im Lebenslauf!) über das ganze Blatt zieht. Ich halte kurz inne und frage mich, ob ich noch etwas Wichtiges Vergessen habe. Dies und weniger Wichtiges, aber zu meinem Leben Gehöriges (z.B. Wald, Schachspielen, Musik etc.), füge ich in die verbliebenen Zwischenräume und lehne mich zurück.
Diese künstlerische Methode für reflexive Lebensprozesse folgt der Intuition und nicht dem Self-Marketing in einem Bewerbungsprozess á la „Wo sehen Sie sich in 5 Jahren?“ Es ist eine Momentaufnahme, die ich mit dem heutigen Datum versehe und aufhänge. Die kommenden Tage setze ich mich jeweils für ein paar Minuten davor und lasse mein „Kunstwerk“ auf mich wirken. Ein wenig fühle ich mich wie ein Künstler.
Die Kunst ist der natürliche Feind der Normalität! (Peter Rudl)
(Über-) Leben im Moment, nicht nur für den Moment – die Kunst des Augenblicks
Sicher… nicht alles, was ich bislang gemacht habe, war das Gelbe vom Osterei, und zum Held vom Erdbeerfeld bin ich lange nicht in jeder Lebenslage mutiert. Zumindest habe ich vieles probiert, bin oft gegen den Strom geschwommen und sammelte so Erfahrungen, die vieles meiner persönlichen „Lebensweisheiten“ ausmachen. Die meisten davon gab es schon vorher, aber die Bestätigung musste ich mir selbst holen. Auf die Frage, was ich am meisten bin und was mein Wesen ausmacht, würde ich sagen: Künstler!
Bürgerlichen Biedermeiern/innen zum Trotz verbinde ich mit diesem Begriff durch und durch Positives. Mehr geistigen und weniger materiellen Besitz z.B., ein Wert, den ich immer mehr zu schätzen lerne. Während andere sich über Aktienkurse ärgern, alte Erbhäuser verscherbeln wollen oder an einst teuren Anschaffungen hängen wie Multifunktionsküchengeräte (eingestaubt auf dem Schrank) oder Bücher (ungelesen in der Kellerkiste), haue ich die wenige Kohle raus, so schnell es geht – absichtlich. Auch ich besitze die nötigsten Versicherungen und investiere in meine Bildung, aber vor allem in den konkreten Augenblick! Das ist zwar manches Mal mehr Überlebenskunst denn Kunst. Aber den Moment einzufangen in einem Gemälde, das Sein zu überhöhen in der Modellierung einer Plastik und das Hier und Jetzt in eine Fotoserie abzubilden, sind es sehr wohl. Dabei geht es mir weder um ungezügelten Hedonismus noch eine blinde „Sch…-auf-die-Zukunft“-Mentalität. Oft wäge ich sehr genau ab, bilde mir Sicherungsfenster (denn Sicherheit selbst halte ich für einen Mythos) oder lasse allzu große Risiken links liegen, mögen sie auch noch so verführerisch duften.
Routinen (Morgentoilette wie Abend-TV) helfen mir wie einem Maler oder Buchautor, die restliche Zeit nicht nutzlos zu verschwenden für Alltägliches. Wir alle überlegen beim Autofahren, Essen oder Schwimmen nicht lange, wie man den ersten Gang einlegt, die Gabel benutzt oder warum wir nicht untergehen wie eine Blei-Ente. Wir tun innerhalb des programmierten und für gut befundenen Musters und es funktioniert. Mehr müssen und sollen Routinen auch nicht – entlasten und ein Fahrwasser ohne große Strömungswirbel bereitstellen. Außerhalb der Routinen gilt genau das Gegenteil: Es soll interessant und neu, ekstatisch und kreativ und manchmal schmerzhaft oder im Ergebnis völlig sinnlos sein. In den letzten Punkten treffen sich für mich Kunst und Wissenschaft sehr oft: Bei beiden muss der Ausgang ungewiss sein und kann gerade im Scheitern genial werden.
Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit! (Friedrich Schiller)
Inspirier‘ mich oder ich fress‘ dich – Künstlertypen contra Stereotypen
Die Inspiration ist meine wichtigste Begleiterin, obgleich sie mich öfters versetzt oder ungerecht behandelt – aber das kann ich ihr nicht übel nehmen. Ich warte zum vereinbarten Zeitpunkt z.B. am Schreibtisch, aber sie kommt ungelegen dann, wenn ich auf dem Klo sitze. Ich bin mit ihr zum produktiven Konstruieren verabredet, und sie albert die ganze Zeit herum wie ein Kleinkind ohne sich zu fokussieren. Übrigens „konzentrieren“ sich herumhüpfende Kinder sehr wohl und das meist besser als wir Erwachsene es vermögen. Aber eben oft auf andere, aus deren Sicht spannendere Dinge als die Mathe-Übung an der Tafel. Meine Schullehrer/innen hatten mit mir in diesem Zusammenhang sicher keine Freude, aber Recht hatten sie mit ihrem „Sitz‘ ruhig und gerade!“ eben auch nicht. Kinder und künstlerische Inspiration scheinen sich sehr ähnlich.
Ich bin kein „typischer“ Künstler wie man ihn aus Backstage-Interviews mit Rockmusikern/innen, Expressionisten/innen-Dokus oder Produzenten/innen-Biographien kennt. Ich beiße keine Ohren ab, verprügle keine Musen oder nehme drei verschiedene Sorten Drogen gleichzeitig. Ich bin auch nicht dauernd klamm, konstitutionell unberechenbar oder halte mich für allen anderen überlegen, die meine „Lebenskunst“ nicht verstehen (wollen). Manche halte ich schlicht für dumm oder ein-dimensioniert, aber ich verurteile ihre Haltung genauso wenig wie ihr Leben.
Ich mag meine Klamotten und die Wohnung gerne aufgeräumt und brauche kein kreatives Chaos im Badezimmer oder Schimmelkulturen auf den Gläsern in der Spüle, um mich frei und offen fühlen zu können. Auch hier nutze ich Routinen nicht als Ordnungsfanatiker. Ich habe nur schlicht keine Lust, ewig das fehlende zweite Söckchen zu suchen vor dem Hinausgehen, mir erst den Weg freizukämpfen, um ein sauberes Glas für den Saft aufzutreiben oder das wichtige Heft in der untersten Kiste zu vermuten, über der ich alles Gestapelte erst zur Seite schieben muss. Man könnte auch sagen: Ich bin einfach faul – aber auf effiziente Weise. Und ich bin sicher nicht der einzige.
Die Kunst ist das einzig Ernsthafte auf der Welt. Und der Künstler ist der einzige Mensch, der nie ernsthaft ist! (Oscar Wilde)
„Kunst“ kommt von „Können“ – natürlich!
„Kunst kommt von Können – käme sie von Wollen, hieße sie ja Wunst!“ Das ist (fern ab ideologischer Diffamierungsversuche in den 30ern) nicht nur ist etymologisch korrekt, sondern liegt auch im tiefsten Bedeutungssinne des Wortes, nicht aber im umgangssprachlichen: „Können“ bezeichnet die Möglichkeit, etwas zu tun, nicht unbedingt die Fähigkeit oder gar Output bzw. Outcome. Auf die Frage „Können Sie Häkeln?“ antworte ich somit vollen Herzens „Na, aber sicher!“ Ich kann es versuchen; ob ich es erfolgreich hinbekomme, mag fraglich bleiben. Will jemand letzteres wissen, müsste er besser fragen „Haben Sie Häkeln gelernt?“ (das habe ich, bin darin aber trotzdem mies).
Da draußen gibt es allerhand Office-Manager/innen, Putzkräfte, Philosophie-Professoren/innen oder Supermarkt-Kassierer/innen, die bestimmt genauso denken wie ich. Die gerne Gutes und Schönes tun, sich inspirieren lassen und Kreatives erschaffen, aber eben nicht in jeder Sekunde ihres Lebens oder gar ihres Broterwerbs. Ich finde es schlicht eine Frage der Geisteshaltung und nicht der beruflichen Karriere oder fachlichen Fähigkeit, ob man im Inneren Künstler/in ist oder nicht. So wie viele klassisch als Künstler/innen anerkannte Menschen ebenfalls ganz profane Dinge im Leben tun mussten und teilweise daran schwer zu verdauen hatten, kann Jede/r den Duft der Kunst inhalieren, die Muße schmecken und (ja, auch das gehört dazu) durchgekaute Kulturprodukte wieder erbrechen!
Tu alles so, als würdest Du ein Kunstwerk erschaffen! (unbekannter Herkunft)
Ein eingängiger Aphorismus, fürwahr – ich halte ihn genauso für falsch wie seinen Verwandten „Lebe deine Träume!“. Ich will und muss nicht ständig etwas Großes hervorbringen, kleine Robbenbabys retten, mich mit grenzgenialen Facebook-Videos interessant machen oder alle meine Wünsche eins zu eins verwirklichen, um es der Welt zu beweisen. Wer aber einen Sinn für Ästhetik hat, Handlungsdramatiken versteht oder im Detail Unglaubliches entdecken kann, ist für mich Künstler/in. Ob sich das beim Serviettenzusammenlegen für die Geburtstagsfeier zeigt oder beim Beobachten einer Fastfood-Verpackung, die der Wind neben dem Mistkübel in der Ecke berührt, bleibt zweitrangig.
William Shakespeare (sollte er wirklich existiert haben), wollte angeblich die ganze Welt als Theater, als Bühne verstanden wissen. Und tatsächlich nehmen wir (auch unbewusst) unsere Rollen auf unserer Lebensbühne ein, wechseln sie gar nicht künstlich und spielen sie meist sehr ordentlich. Schließlich spielt ein/e Schauspieler/in keineswegs zur reinen „Schau“.
Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es ganz sicher für mich behalten! (Pablo Picasso)